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Teil 2: September und Oktober (Die Anfänge)


September und Oktober (Die Anfänge)

Das ist das Leben - ein zum größten Teil von mir nicht ausgeführtes Experiment. - H. D. Thoreau Walden


Von Zuhause loszukommen viel mir sehr schwer. Schwerer noch als ich es erwartet hätte.
Seit dem ich mich nach einer kurzen Erfahrung des Probearbeitens endgültig dazu entschieden hatte ein FSJ auf dem Hof Naatsaku Talu in Estland zu machen, hatte ich stets Vorfreude im Kopf. Dann rückte der Ernst näher. Letzte Besorgungen standen an, ein Vorbereitungsseminar und eine Abschiedsparty. Wie schwer es mir doch viel mich zu verabschieden, wurde mir dann am Ende des Vorbereitungsseminars wieder bewusst. Die Abschiedszeremonie kam mir wie eine Folter vor, bei der ich mich allerdings glücklicherweise freiwillig zum Abbruch entscheiden konnte.
Auch Zuhause wurde mir zunehmend bewusst auf was ich mich für Risiken und Erfahrungen eingelassen hatte. Ich entschied mich gegen eine Abschiedsparty, die ich dann doch veranstaltete. Den Tag darauf ging es mir ähnlich wie vor der Nacht des Geburtstages. Gedanken zu letzten Malen (für eine lange Zeit) strichen mir durch den Kopf. Das letzte Familienessen, die letzte Folge der Serie, von mir und meiner Schwester. Nur dass es eben nicht das letzte Mal vor einem gewissen Lebensjahr war, sondern für einen Großteil des kommenden Lebensjahres.

In den 26 Stunden Fahrt merkte ich sofort den Wandel ins "östliche". Die sowjetisch geprägte Architektur und die für meine Verhältnisse billigen Tankstellenpreise, stachen mir dabei speziell ins Auge. Als es dann, von Polen aus, nach Norden ging wurde das Land flacher, Städte seltener und auch der Flair wandelte sich.

Angekommen gab es schon die erste Überraschung. Nachdem ich sehr bepackt und müde die Treppe hinauf ins Wohnzimmer unseres Wohnhauses, das sogenannte Zivi-Haus, oder auch die Butze, kam, fand ich nicht nur die bereits angekündigte Langzeitpraktikantin Nadja vor, sondern auch Hannah, eine ehemalige FSJ’lerin, von vor zwei Jahren, die gerade auf dem Hof Urlaub machte. Gerade sie half mir in der Anfangszeit sehr, bei der Einarbeitung, aber auch bei einigen Fragen, die mir bezüglich des kommenden Jahres im Kopf schwebten. Dies war sehr hilfreich, da ich so nicht immer und bei allem Markus fragen musste. An dieser Stelle sollte ich wohl einmal die Konstellation der auf dem Hof lebenden Menschen vorstellen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt von Markus und Nora v. Schwanenflügel. Mittlerweile lebt auch ihr Sohn Martin mit auf dem Hof, der seine Frau Kersti in seiner freien Zeit während der Hofaufarbeitung hier in Estland kennenlernte. Zusammen bekamen sie zwei Kinder. Sie haben ein eigenes Haus, etwas abseits gelegen. Er arbeitet als Landwirt und hilft auch den
FSJ’ler*innen und Jugendlichen, vor allem bei den forstwirtschaftlich geprägten Arbeiten. Weitere Informationen zur Entstehungsgeschichte des Hofes, sowie der Aufarbeitung können auf der Website "Naatsaku Talu" aufgerufen werden.

Umso mehr ich mich in meinem neuen Zimmer einrichtete, umso mehr richtete ich mich, vor allem zu Anfang, auch in der neuen Lage ein. Sortierte mich in der Situation. Das dauerte ungefähr bis zum dritten Tag an. Am Abend meiner Ankunft viel ich nach einem ersten netten Gespräch mit Hanna und Nadja nur noch ins Bett, und auch am Sonntagmorgen legte ich mich nach den Tierdiensten erschöpft zurück in mein Bett, den Rest des Tages nutze ich um meinen Rucksack auszupacken und so konnte ich dann am 31.8. in die erste Arbeitswoche und mein neues Leben starten.

(Foto: Jacob Bilal Hatem)

Dinge die mir gerade zu Anfang auffielen, waren die vielen Fliegen und der Mist, doch mit beidem konnte ich schnell lernen umzugehen. Nachdem mich einige wenige Male die Wut überkam und mich dazu verleitete mit der Fliegenklatsche herum zu wedeln, merkte ich wie ich vermeiden konnte, dass sich die Fliegen abends in meinem Zimmer tummelten, und tagsüber im Wohnzimmer und meinem privaten Zimmer trotzdem frische Luft zirkulierte. Auch daran dass "man" auf so einem Hof immer Kacke unter dem Schuh hat, gewöhnte ich mich.

Auf Naatsaku Talu ist jede*r Freiwillige und auch die zu Betreuenden für eine Art von Tieren verantwortlich. Dies bringt gerade für die Jugendlichen Struktur in den Tag, sie können aber eben auch durch die Arbeit viel lernen und merken dass sie nützlich sind.

(Foto: Jacob Bilal Hatem)

Ich bin für die Ziegen, und Schafe verantwortlich. Auch gebe ich jeden Morgen den Enten Wasser, und mache bei den Hühnern das Licht aus und die Klappe zum Stall nachts zu, da all diese Ställe in einem Haus untergebracht sind, dessen Dach ein Heuschober ist. Die Ziegen muss ich jeden Morgen und Abend melken, dies war zu Anfang sehr schwer, denn die Muskeln welche "man" hierzu beanspruchen muss, musste ich erstmal trainieren. Hanna zeigte mir hierbei alle Tipps und Tricks und so gewöhnten sich auch die Ziegen immer mehr an mich. Zu Anfang traten sie noch mit den Hinterläufen aus, so dass sogar einmal der Milcheimer umgestoßen wurde, oder auch ein Ziegenbein in ihm landete, und hörten nicht besonders gut auf meine Stimme. Drei Ziegen müssen insgesamt gemolken werden; Lauli (die Leitziege), Lotte, die einen sehr schwierig zu melkenden Euter hat und zudem noch sehr lange Haare, so dass "man" ihn auch nur schlecht sieht, und Lona, die an unterster Rangordnung steht und die anderen sogar fürchtet. Außerdem hausen in dem Stall noch zwei Zicklein und vier Schafe. Nach dem Melken bekommen alle noch etwas Hafer und danach lasse ich sie auf die Weide. Abends hole ich alle wieder rein und melke noch einmal.

Lotte
(Foto: Jacob Bilal Hatem)

Wenn "man" Tiere weiden lässt, muss "man" sich überlegen, ob entweder die Tiere auf einem umzäunten Areal, welches sie abgrasen dürfen, weiden, oder ob ihnen die ganze Weidefläche zur Verfügung steht und lediglich die Dinge umzäunt werden, die sie nicht anfressen dürfen. Für die Ziegen und Schafe gebe ich jeden Morgen, bevor ich sie auf die Weide lasse, ein Stück mehr Weide dazu, indem ich den Zaun umstecke. Dass ich die Weide jeden Tag erweitere, hat auch den Vorteil, dass die Ziegen und Schafe die Fläche, die sie bekommen, auch abgrasen. Würden sie eine ganze Wiese als Weidefläche zur Verfügung bekommen, würden sie einen großen Teil davon zertreten und dann nicht mehr essen. So nutzen wir mit dieser Variante die Weidefläche am effektivsten. Auf die Weide bringe ich sie indem ich die Leitziege an die Leine nehme und die anderen mit Ausrufen wie "Na komm" oder "Hop Hop Hop" locke bzw. antreibe.

Für den Rückweg muss ich sie meist noch nicht einmal an die Leine nehmen, da sie den Weg zurück zum Stall schnell kennenlernten. Dann laufe ich nur hinter ihnen her und treibe sie an. Wenn sie angekommen sind und nachdem ich sie ein zweites Mal gemolken habe, gebe ich ihnen noch Wasser und Heu für die Nacht. Wenn es doll oder lange regnet, muss ich die Tiere schon früher in den Stall bringen, da sie schnell Husten bekommen. Ein weiterer Grund ist das ausbrechen der Böcke, die getrennt von den Ziegen weiden. Wenn sie allerdings ihren Zaun überwinden, muss ich die Ziegen und Schafe schnell in ihren Stall bringen, bevor die Horde der Streuner angerannt kommt um sie zu decken.

(Foto: Jacob Bilal Hatem)

Die Ziegen und Schafe brechen nur sehr selten aus. Ich leite auf ihren Zaun meist nicht einmal Strom. Wenn es allerdings doch einmal passiert, dann muss ich erst alle Tiere wieder zusammen locken, so gegebenenfalls auch die Tiere, die noch umzäunt sind ausbrechen lassen. Das wichtigste ist dann die Leitziege zu erwischen, da Alles auf sie hört und sie so wieder gemeinsam ins "Gehege" zu bringen. All dies ist meist nur zu zweit oder mit Hafer möglich, auf den die Ziegen wie auf eine Art Droge reagieren. Wenn ich ihnen etwas von ihm gebe, können sie kaum still bleiben und in ihrem Kopf spielt sich nichts mehr ab, außer wie sie am schnellsten und am meisten von ihm bekommen. So kann "man" ihn natürlich auch nutzen, in Fällen wie diesem. Nach den morgendlichen Tierdiensten beginnt mein Arbeitstag erst wirklich.

Von der Struktur her sieht mein Arbeitstag, bzw. meine Arbeitswoche, wie folgt aus; jeden zweiten Tag, außer am Wochenende, muss ich um 6:10 Uhr aufstehen, um einen Brei aus Banane, Äpfeln und Haferflocken aufzusetzen. Hierbei wechsele ich mich mit Nadja ab und am Wochenende essen wir Müsli. Nach diesem ersten kleinen Frühstück um 7:00 Uhr und den darauffolgenden bereits beschriebenen Tierdiensten, gibt es um 10:30 Uhr dann das "richtige" Frühstück. In der Zwischenzeit wird gearbeitet, bzw. bis um zehn Uhr wenn "man" Essensdienst hat, doch zur Arbeit in der Küche und der insgesamt Ernährung ein andern mal mehr. Meist besteht diese morgendliche Arbeit aus mehreren kleineren Aufgaben die anstehen, oftmals einfachere Reparaturen oder das Vorbereiten von Ställen, oder Weiden, auf die kommende Zeit. Nach dem zweiten Frühstück wird dann bis zum Mittagessen, zu welchem es um 13:00 Uhr klingelt, gearbeitet. Danach gibt es eine kleine Mittagspause, bis um 14:30 Uhr, und dann beginnt die letzte Arbeitseinheit, die bis 17:30 Uhr andauert, wo wir uns alle zu Kaffee und Kuchen treffen. Damit ist der Arbeitstag als solcher beendet, nun stehen täglich nur noch der abendliche beschriebene Tierdienst, als auch der Essensdienst, wenn "man" dran war, an.

Durch den Essensdienst wird der Tag um einiges anstrengender. Gerade zu Anfang ließ sich der Aufwand den ich betreiben musste nicht unterschätzen. Mittlerweile habe ich schon eine einigermaßen stehende Routine. Die erste Aufgabe die mit dem Dienst einhergeht ist das Vorbereiten des zweiten Frühstücks. Hierzu muss "man" sich schon um zehn Uhr aufmachen, von der Arbeit in die Küche. Hier werden nun Spiegeleier in der Pfanne angebraten, das Brot auf dem Ofen getoastet und der Tisch gedeckt. Außerdem muss "man" einen Kessel aufsetzen, damit es heißes Wasser für Tee und Kaffee gibt. Insgesamt muss also alles ziemlich gut abgepasst und koordinieret werden, damit das zweite Frühstück rechtzeitig fertig ist, denn so ein Feuer braucht auch eine Weile, bis es Wasser heiß macht und Brot toastet.

Die nächste Aufgabe ist die Vorbereitung des Abendbrots. Hier gelten die gleichen Schritte der Vorbereitung, nur dass es nicht nochmal Ei gibt, sondern Zucchini, die ebenfalls in der Pfanne angebraten wird. Die kleinen Ringe kann "man" sich dann zusätzlich aufs Brot legen. Nach den Mahlzeiten muss dann noch abgeräumt werden, da helfen natürlich alle mit, nur die Person die Essensdienst hat, trägt eben die Verantwortung und lässt den letzten Blick noch einmal die Vergesslichkeit absuchen, und der Tisch muss abgewischt werden. Der für mich anstrengendste Part dieses Dienstes ist allerdings der Abwasch. Aufteilen kann "man" sich ihn, wie "man" es will. Ich probiere ihn stets vor dem Abendbrot erledigt zu haben, sodass ich danach mit dem Großteil fertig bin und meinen Abend frei gestalten kann. Natürlich geht dies nie ganz auf, da ja auf alle Fälle noch das Geschirr, welches zum Abendbrot dreckig wird, abgewaschen werden muss und außerdem noch Kleinigkeiten wie das Nachfüllen der Töpfe, oder das Entsorgen des Dreckwassers anstehen. Außerdem auch ein letztes Abwischen der Tische. Besonders der Abwasch stiehlt einem so also die Freizeit, denn das Vor- und Nachspülen, welches sehr gründlich gemacht werden muss, zu dem ja auch erstmal das Erhitzen von Wasser gehört, setzt ein genaues Zeitmanagement voraus. Gerade in der Anfangszeit war das etwas was ich noch nicht besaß und so stand ich bei viel dreckigem Geschirr meist bis nach 21:00 Uhr in der Küche.

Mit dem Dienst wechseln wir uns ab, Nora außen vorgelassen, da sie jeden Tag schon viel Arbeit in der Küche auf sich nimmt, z.B. das Käse machen, oder die Vorbereitung und den Abwasch vom ersten Frühstück, sowie das Bereiten der Süßspeise zu Kaffee und Kuchen. Auch macht sie meist das Mittagessen. In meiner Anfangszeit hatte sich Nadja Urlaub genommen und war auf Wanderschaft. So musste ich also jeden zweiten Tag den Essensdienst übernehmen. Dies war sehr hart für mich. Doch ich bekam immer mehr Übung, wobei ich nie bedacht hätte wie viel "man" üben kann, um gut und sinnvoll Abzuwaschen. So schaffe ich es mittlerweile eine bis eineinhalb Stunden eher mit allem fertig zu sein. Dies liegt aber auch daran, dass wir mit dem Hereinbrechen des Winters auch angefangen haben die Tierdienste schon vor dem Abendbrot zu erledigen, und daran, dass Nora Mitte Oktober nach Deutschland fuhr, um an der standesamtlichen Hochzeit ihres Sohnes teilzuhaben. So fielen Teile des Abwasches weg, die durchs Käse machen entstanden und natürlich auch dadurch, dass wir eine Person weniger waren.

Die Tage sind also sehr voll und die Wochen vergehen wie im Flug. Schon lange hatte ich nicht mehr so ein wertschätzendes Gefühl gegenüber meiner freien Zeit. Wenn ich mir Sonntags die Arbeitsklamotten ausziehe (da es sich nicht lohnen würde, jeden Tag sein T-Shirt zu wechseln, habe ich ein Arbeitsoutfit und Freizeitklamotten, die ich je nachdem was anliegt wechsele) und weiß, dass ich sie den ganzen Tag über nicht wieder anziehen muss, ist das ein Gefühl des Ausatmens, wie ich es schon lange nicht mehr verspürte. Insgesamt nutze ich meine freie Zeit hier auch sehr viel mehr aus, als ich es zuhause getan habe, da sie einfach so wertvoll ist. Jede Minute wird genossen und ausgefüllt. Doch zur Beschreibung meiner Freizeitgestaltung und der Arbeit im Detail im nächsten Bericht mehr.

(Foto: Jacob Bilal Hatem)

*Ich habe versucht, in diesem Text keine sexistischen Ausdrücke zu wählen und auf eine geschlechtergerechte Sprache aufmerksam zu machen, die keine stereotypischen Rollenbilder reproduziert.


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